Mit Tee die Seele pflegen

Text: Lotty Wohlwend

Wie trinkt man Tee in der Schweiz? Welche Rituale sind damit verbunden? Mit dieser Frage wagten wir uns an die Länggasse in Bern, dort wo die erste Teeschule der Schweiz steht und wo in zweiter Generation mit Leidenschaft von der Familie Lange Tee importiert und verkauft, beziehungsweise die Tee-Kultur zelebriert wird.

Tee-Expertin und Leiterin der ersten Teeschule der Schweiz, Tina Wagner Lange, überlegt: Das Tee-Trinken und der Tee-Genuss haben in der Schweiz lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Tee wurde und wird noch oft erst dann getrunken, wenn man krank ist oder als vorbeugende Massnahme. Tee zu Heilzwecken hat denn auch eine sehr traditionsreiche Geschichte. Tee trinken als «Kulturgut» ist in der Schweiz hingegen wenig verwurzelt. Und so wundert es nicht, erklärt die Teespezialistin, dass hierzulande vor allem der Kräutertee in verschiedenen Formen und Variationen sehr beliebt ist.
Ganz zuoberst stehen einheimische Kräuter, zum Beispiel aus den Bergen. Tina Wagner Lange lässt einen Kräutertee aus dem eigenen Geschäft servieren, sehr hell in seiner Farbe, weich und sanft im Geschmack. Was trinken wir hier? Eine Edelweiss-Mischung, die ihre Schwiegermutter Katrin Lange, die Mitbegründerin des Unternehmens, zusammengestellt hat und die sich grosser Popularität erfreut. Es ist eine Alpenkräuter-Teemischung, wobei das Edelweiss selbst eine untergeordnete Rolle spielt.

Teegenuss-Kultur wächst
Die Tee-Kultur, so wie sie in vielen traditionellen Tee-Ländern geprägt wird, mit Ritualen und Zeremonien, ist sich auch hierzulande langsam am Entwickeln, erzählt Tina Wagner Lange. So wie man einen guten Wein zelebriert, einen feinen aromatischen Kaffee geniesst, gibt es immer mehr Teeliebhaber, die für ihren Tee weit gehen. Man nimmt sich zunehmend Zeit, die Kräuter sorgfältig aufzugiessen, das Teekraut wirken zu lassen; dafür nimmt der Schweizer gerne grosse Ohrentassen, seltener auch zartes, feines Porzellan. Tina Wagner Lange schmunzelt: «Die Schweizer Tee-Genuss-Kultur, abgesehen von den Heilkräutern, ist noch jung, aber sie wächst.»

Wie im Reich der Mitte

Der Teeladen in der Länggasse verkauft verschiedene Teesorten und Mischungen, doch keine Heilkräuter-Tees. «Wir sind keine Apotheke», erklärt dazu Kaspar Lange, der Ehemann von Tina Wagner, «wir sind ein Teeladen.» Blickt man sich um, fühlt man sich wie im Reich der Mitte, oder um es poetischer auszudrücken, im Land der Morgenröte.
Ein breiter Holztisch, umgeben von Holzhockern, lädt zum Verweilen ein. In den Regalen lagern Dutzende von kleinen, runden Tellern, die aussehen wie in Tuch oder Pergamin gehüllte Käselaibe. Überall sind chinesische Schriftzeichen zu sehen. In einer Vitrine an der Stirnseite des Raumes steht auserlesenes chinesisches Porzellan. Es lagern Schätze hier, die für einen Laien kaum zu ermessen sind, Lagerbestände an Tee, für die die Tee-Familie Lange weit gereist ist, nach China und Taiwan nämlich. Ihre grosse Leidenschaft ist, den Tee direkt aus dessen Anbaugebiet zu importieren, von den Produzenten selbst. Und so reist Kaspar Lange regelmässig nach China und kennt sich nicht nur in den Sorten und Qualitäten sehr gut aus, er spricht mittlerweile auch die Sprache.

Kleine Teekunde
China, das Reich der Mitte, hat die wohl älteste Teetradition. Seit ca. 5000 Jahren in China kultiviert, wurde der Tee erstmals ca. 600 v. Chr. schriftlich erwähnt. Und obwohl die Tees alle aus derselben immergrünen Pfanze, der Camellia sinensis, stammen, unter- scheiden sich die Sorten dann doch sehr grundsätzlich in Farbe, Form und Geschmack. Ob aus dem grünen Teeblatt am Ende schwarzer, grüner, weisser oder Oolong-Tee entsteht, hängt vom Herstellungsverfahren ab. Entscheidend ist dabei die Fermentation. Durch die Fermentation (Oxidation) nehmen die Blätter ihre kupferartige Farbe an und entfalten ihr charakteristisches Aroma.
Bei grünem Tee handelt es sich um unfermentierten Tee. Geniessen und philosophieren Tina Wagner bietet uns nun einen chinesischen Tee an, einen Pu Er. Sie füllt in ein Kännchen heisses Wasser und schüttet dieses sofort wieder aus. Dann gibt sie eine kleine Handvoll Tee ins Kännchen und giesst heisses Wasser dazu. Diesen ersten Aufguss leert sie aus, den zweiten bietet sie ihren Gästen in kleinen Porzellanschälchen, so genannten Cups, an. Ihre Bewegungen sind fiessend und man spürt: Es sind vertraute Handgriffe, die sie tagtäglich mehrfach wiederholt.
Das Teetrinken, so bestätigt sie, ist für sie zum Mittelpunkt Chin. Teehaus geworden – Tee ist allgegenwärtig. Ob während der Arbeit oder privat daheim, der Tee wird aufgegossen, und zwar mehrfach, und in Ruhe getrunken. Jede Tasse ist anders im Aroma. Tina Wagner bittet ihre Gäste, daran zu riechen: Der Tee riecht ungewöhnlich, erdig. Auch das Aroma ist im ersten Moment sehr speziell, für den westlichen Gaumen ungewöhnlich bitter. Doch schon der zweite Aufguss und die leichte Veränderung des Aromas machen neugierig auf mehr. Der dritte Aufguss verlangt nach dem vierten… und schon ist man mitten im Philosophieren und Diskutieren. Die Zeit vergeht. Der Vorgang des Aufgiessens wird solange wiederholt, bis die Teeblätter ausgelaugt sind.

Geheimnisse des Teetrinkens
Tina Wagner lacht, denn auch sie ist mit Liptons Beutel-Tee und Milch aufgewachsen. Die Liebe zum Tee hat sie erst über ihren Mann Kaspar kennen gelernt. Heute ist sie begeistert über die Vielfalt der Aromen. Das Sensorische spricht sie ungemein an: «Es ist jedes Mal etwas sehr Sinnliches, den Tee zu kosten.» Das Degustieren verschiedener Aromen und die Zubereitung der Tees nehmen denn auch in den Kursen der ersten Teeschule der Schweiz grossen Raum ein. Nach wie vor sind es in der Mehrzahl Frauen, die sich auf dieses Erlebnis einlassen. Doch immer mehr kommen auch Männer, nicht zuletzt aus der Gastronomie, um sich hier in die Geheimnisse des fernöstlichen Teetrinkens einweihen zu lassen. Man spürt: Das Teetrinken nach fernöstlicher Manier ist im Kommen.
Lotty Wohlwend